Schwarzfahrer

Wie sich die Welt (oder zumindest Deutschland) in nur zwei Jahren verändern kann. Im Oktober 2013 gab ich das erste Mal das Fach “Storytelling und Drehbuchentwicklung”. Die Prüfungsform darin ist eine Praktische Arbeit in Form eines Kurzfilmdrehbuchs, dass in einem Pitch vorgestellt wird. Die Gewinnergeschichte hat dann die Chance in späteren Seminaren tatsächlich produziert zu werden.

Während sich viele Storytellingvorlesungen (und auch die meiste Literatur) nur mit Drehbüchern für Langfilme beschäftigen, war mir wichtig, dass wir uns auch tatsächlich den Kurzfilm vorbereiten (Einführungs-Buchtipp: “Kurzfilm Drehbücher schreiben” Axel Melzener, 2010). Zur Vorbereitung darauf gehört natürlich auch das Sehen, das Besprechen und das Analysieren von Kurzfilmen. Einer der Filme, die meiner Meinung nach zum Pflichtprogramm gehören, ist “Schwarzfahrer” (Pepe Danquart 1992). Ein Film, der unerträglich lange die rassistischen Vorurteile einer Frau im öffentlichen Raum stehen lässt. Alle Personen nehmen das stillschweigend hin, bevor die humorvoll-ironische Wendung, die Auflösung bringt.

Um diesen Film einordnen zu können, bekamen die Studis, die in der Regel Kinder der 90er sind, eine kurze Zusammenfassung über “damals”. So stand ich also im Oktober 2013 und Oktober 2014 vor einer Gruppe Studierender und erzählte von dieser völlig absurden Zeit Anfang der 1990er-Jahre. Von der Zeit, nach der Wiedervereinigung. Damals, als Neonazis es wagten sich öffentlich zu zeigen. Als rechtsradikale Häuser und auch Menschen anzündeten, während sich die Polizei zurückzog und die Neonazis gewähren ließ. An diese Zeit, als unser Land auf die rechte Gewalt nicht mit der vielzitierten “Härte des Rechtsstaats” antworteten, sondern mit Gesetzesänderungen, die die Rechten zufriedenstellen sollte (Asylkompromiss).

2013 und 14 stand ich also vor Gruppen von Studierenden, die das nicht glauben wollten. Wirklich, in den 90ern? Als sie schon gelebt haben? Ok… ist ja aber auch schon lange her… Jetzt ist aber das 21te Jahrhundert und sowas ist undenkbar.

Im Oktober 2015 war es wieder so weit. Eine neue Gruppe im Seminar, wieder der Film Schwarzfahrer. Diesmal fehlten mir die Worte. Ich wollte wieder von dieser Zeit erzählen, die mir immer wie ein alter dunkler Traum aus meiner Kindheit vorkam. Wir wohnten damals eine Straße vom nächsten Asylbewerberheim entfernt und mit einem nichtdeutschen Namen war die ganze Familie in Alarmbereitschaft, ob nicht doch irgendetwas passieren könnte.

Die letzten Jahre hatte ich versucht die Unvorstellbarkeit dieser Zeit in Worte zu fassen. Den Studierenden in ihrer heilen Welt zeigen, dass schreckliches noch gar nicht so lange her ist. Dann stand ich 2015 vor einer Gruppe Erstsemester. Wollte von dieser dunklen Zeit erzählen. Während ich noch versuche die Worte zu finden, kommt ein: „eigentlich so wie heute” heraus. Nur dass man die Leute damals nicht als “besorgte Bürger”, sondern als Rechtsradikale bezeichnet hat.

Diese Sprachlosigkeit hatte ich letzten Oktober. Aber beim schreiben stelle ich etwas noch viel schlimmeres fest: Ich habe mich bereits daran gewöhnt.

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