Gruppen definieren sich durch Abgrenzung. Ganz besonders natürlich, wenn sie sich als eine Elite betrachtet. Die frühere digitale Elite a.k.a „Netzgemeinde”, hat dieses Abgrenzungsproblem. Beim sogenannten „Klassentreffen”, der re:publica in Berlin stellte sie sich der einen und anderen Fragen und erzählte sich gegenseitig wie toll sie ist. Tschuldigung - ich sollte nicht über „Sie“ schreiben, sondern das „wir” benutzen. Schließlich gehöre ich irgendwie auch zu dieser Gruppe und war ebenfalls anwesend.
Also wie definieren wir uns? Früher ging das noch einfach. Man konnte gemeinsam über Internetausdrucker lästern und von besseren Zeiten träumen. Zeiten einer freien digitalen Gesellschaft. Die digitale Gesellschaft kam, mit der Freiheit wurde anderes gemacht als wir es uns dachten. Jetzt sitzen wir da, Opfer unserer eigenen Visionen und sind ratlos. Teilweise sogar, ohne es überhaupt zu merken (schließlich freuen wir uns ja auf das schöne Treffen).
Das wäre dann auch erledigt. #rpTEN pic.twitter.com/2f0fq5fUc7
— Adrian (@dfgzwei) 1. Mai 2016
Was wurde aus uns? Wir sind nicht, wer wir immer sein wollten. Wir sind nicht die Speerspitze einer Entwicklung. Wir sind die Internetausdrucker von morgen. Wir, die Kinder des freien Internets, die in einer Welt von Plattformen aufwachen. Wir, die mit unseren Idealen von freien Protokollen und offenen Schnittstellen das dezentrale Netz behalten wollen. Irgendwie sind wir ein bisschen, wie die alten 68er, die inzwischen für Weltkonzerne arbeiten, von den wilden Zeiten erzählen und ihre Nachbarn wegen Ruhestörung anzeigen. Wir, die die Vision eines freien Netzes mit offenen Schnittstellen predigen und lieben, die aber gleichzeitig mit und für die großen Webplattformen arbeiten. Die Ethik des eigenen Handelns, bei CCC-Veranstaltungen ein ewiges Thema, scheint bei uns Nebensache zu sein. Wir sind ja sowieso die Guten (übrigens auch ein interessanter Kontrast zur Media Convention, die trotzdem sie ein Firmengesteuertes Event war, einen selbstkritischeren Eindruck hinterlies).
Also wer sind wir? Von wem grenzen wir uns ab? Auf jeden Fall von Menschen mit einem geringeren Bildungsniveau. Aber das ist schon so selbstverständlich dass darüber gar nicht nachgedacht wird. Wir leben in so verschiedenen Welten, dass es gar keiner aktiven Abgrenzung mehr bedarf. Also grenzen wir uns von den digitalen Analphabeten ab, von Neulandrhetorikern. Eben von den alten Internetausdrucker (die auch schon lange keine mehr sind). Die nachrückende Generation wird einfach als “Kinder” abgetan und muss dadurch auch nicht mehr ernstgenommen werden. Wir leben bequem in unserer kleinen Blase, eine Kommune namens Netzgemeinde in einer vernetzen Welt, die an uns vorüberzieht. Die Oma und der gemeine AfD-Wähler sind seit Jahren auf Facebook. Die sind Jungen auf Snapchat, Youtube, verschiedenen Streamingplattformen und wir fühlen uns mit unseren Blogs, Tweets, der ZDF-Mediathek und unseren Podcasts am Puls einer Zeit, die so gar nichts mehr mit uns zu tun hat.
#rpTEN: Die Hipster sind alt geworden und das WLAN geht immer noch nicht.
— Die_Sara (@_die_sara) 2. Mai 2016
Die re:publica 2016 war wie ein Weckruf für viele: Hey, es passiert total viel was wir nicht toll finden und wir haben total viel verpasst. Aber wir mögen das Internet trotzdem. Mag sein, aber mag dieses Internet uns eigentlich noch? Was passiert auf Snaptchat nach der Invasion der alten Leute (Session: Snapchat für Erwachsene)? Was wirft es auf ein Bild auf die “Netzgemeinde”, wenn die digitale Speerspitze des um Monate hinter dem Marketing der CSU hinterherhinkt?
Auch wenn der Spiegel, zentrales Motiv der rpTEN, zur Selbstreflektion aufrufen sollte, habe ich persönlich davon wenig gespürt. Man hatte wichtigeres zu tun. Zum Beispiel sich selbst feiern. Sich selbst versichern, was für eine tolle Gemeinschaft man ist und wie offen man ist. Und es stimmt: Auf der re:publica habe ich kein einziges Mal erlebt, dass jemand wegen irgendwas angemotzt oder blöd angemacht wurde. Die Leute waren sich schlicht und einfach egal. Wer sich kannte hat sich getroffen und hatte Spaß, der Rest marschierte schweigend aneinander vorbei. Am Ende hat man wieder gemeinsam gesungen und den großen Zusammenhalt beschworen. Es ist eine Massenveranstaltung, dabei zu sein ist kein Thema mehr. Sind ja sowieso alle.
Um das auch klar zu sagen: Es waren wieder geniale Sessions dabei. Wunderbare Talks, schöne Begegnungen. Trotzdem baute sich über die ganze Zeit ein diffus unwohles Gefühl auf. Und damit meine ich nicht den Raclettestand, der vom Gelände verwiesen wurde, nachdem auch die rpTEN-Orga mitbekommen hat dass Käse nach Käse riecht.
Auflösung: #RIPlette #RIPlettegate #rpTEN pic.twitter.com/gqTUP67Vtd
— #RIPlette (@RIPlette_rpTEN) 3. Mai 2016
Zum diffus-unwohlen Gefühl zählte für mich auch, von wem man sich da eigentlich sponsern lässt (Tabakindustrie, srsly?!?) und eben dass die, für mich berufsmäßig immer vorgeschriebene, Trennung zwischen Anzeige und redaktionellen Inhalten nicht gewahrt wurde. Während Prof. Frühbrodt in seinem Talk “Content Marketing - Vormarsch der Pseudo-Journalisten” (der allerdings zur Media-Convention gehörte, nicht zur re:publica) noch auf diese Mogelpackungen hinwies, gab es plötzlich Talks die gesponsert, präsentiert oder verpartnert waren. Also praktisch „gekaufte” Talks, verpackt als normaler Konferenzinhalt. Darauf wurde zwar hingewiesen, allerdings immer nur in winzigen Fußnoten. Dagegen wirkte die Werbung der Tabakindustrie sogar noch ehrlich.
Im Nachgang der Konferenzwoche noch eine Breitseite gegen die rp-Orga. Der entsprechende Artikel passt zwar irgendwie in meine Stimmung, trotzdem will ich ihn mir nicht zueigen machen, auch wenn das Thema sehr problematisch wirkt. Zu viel persönliche Kränkungen und alte Geschichten spielen hier herein, dazu noch kleine Spekulationen. Das Gute daran: Seitens der re:publica wurde ein Code of Conduct angekündigt. Da habe ich sie dann endlich: Meine Ethikdiskussion.
tl;dr
Insgesamt erinnert mich der Zustand der Netzgemeinde und der re:publica an die Stadt Berlin: Man wäre so gern der Mittelpunkt der Welt. Erzählt es sich gegenseitig auch so lange, bis man es irgendwann glaubt. Es wird deswegen TROTZDEM nicht wahr.
Und trotzdem war's schön.
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